Wo sind all die schönen Instagram Menschen?

Gedanken über etwas, das ich nicht verstehe…

Gedanken über etwas, das ich nicht verstehe…

Als ich mich am Sonntag nach einigen Stunden Gesprächen mit Klientinnen auf eine Parkbank setzte, um in der noch kühlen Frühlingssonne und dem Gezwitscher der Vögel, die tapfer gegen den Großstadtlärm Berlins im Hintergrund ankämpften, wieder zur Ruhe zu kommen und Abstand von all den emotional aufgeladenen Themen zu finden, habe ich mich gefragt, was eigentlich mit den Menschen los ist…

Dass sich meine Arbeit einmal um Selbstzweifel, Ängste, Zwänge, Einsamkeit, essgestörtes Verhalten, Essstörungen, sich unattraktiv, nicht genug und nicht geliebt fühlen, negativem Körperbild, Angst vor dem Zunehmen, Vergleich mit anderen, Selbstsabotage und -verletzung, Traumata, Kindheit, Persönlichkeitsstörungen, Missbrauch jeder Art und toxische Beziehungen drehen würde, war nie Teil meiner Lebensplanung.

Doch nun planen all diese Themen in gewisser Weise mein Leben.

Foto by Regine Tholen



Fitness…im Stellungskrieg mit sich selbst

Eigentlich dachte ich, ich mache “Fitness” für Frauen. 

Ich dachte, ich helfe Frauen, auf “gesunde” Art und Weise den Körper zu bekommen, den sie sich wünschen, ohne dass sie sich selbst zerstören.

Denn so viele Frauen haben viele Jahre bis Jahrzehnte regelrecht gegen ihren Körper “gekämpft”.

„Gewonnen“ haben sie jedoch nie.

Vielleicht haben sie diesen Kampf „verloren“, weil sie einen Feind im Außen gesehen haben, der eigentlich im Innen war:

Sie selbst.

Viele Jahre diäten.

Viele Jahre auf der Suche, nach der perfekten Ernährungsform.

Viele Jahre Gedanken rund ums Essen und um Training.

Viele Jahre zwischen Auf und Ab, Hoch und Tief, gut und schlecht, “dick” und “dünn”, Kontrolle und Kontrollverlust.

Viele Jahre an Konsum von Informationen, die den Schalter im Kopf umlegen sollen, doch nie getan haben.

Viele Jahre in denen viel in “Fitness” investiert wurde, ohne je “fitter” geworden zu sein.

Viele Jahre auf der Suche nach einer Problemlösung für ein Problem, aus dem sich immer mehr Probleme ohne Aussicht auf Problemlösungen ergeben haben.

Viele Jahre „Fitness“ also…

immer mehr und immer mehr, doch nie genug und immer zu viel.

Übrig bleibt ein psychisch und physisch „kaputtes“ Häuflein Elend, das nicht mehr weiß, was, wer und wie es vor dem Elend war.

Alle haben eins gemeinsam:

Sie fühlen sich nie gut genug.


Foto by N-i-f-t-y-a-r-t




Es war einmal…ein Fitnessmärchen.

Nun muss ich feststellen, dass die Bewertung des Selbstbildes der Motor des kommerziellen Getriebes “Fitness” ist.

Nicht Gesundheit.

Das ist praktisch, denn wenn sich das Selbstbild eines Menschen über das Fremdbild anderer Menschen in seinem Wert verändern lässt, kann man Menschen deren Selbstbild über das Fremdbild reguliert wird, ganz einfach und effektiv manipulieren.

Wie Marionetten eben.

“Fitness” scheint lediglich so eine Art Geschichte zu sein, die sich Menschen, die sich in einer Blase versammeln, gegenseitig erzählen, um der Sinnlosigkeit dessen, womit sie ihre Lebenszeit verschwenden, einen Sinn zu geben.

Diese Menschen kennen es nicht anders als zu kämpfen.

Selbst wenn nichts los ist.

Selbst wenn sie keinen Feind haben. 

Selbst wenn alles gut ist.

“Fitness” ist ihre Kampfarena.

Sie hängen am Handy, kümmern sich um Training und Ernährung, um besser auszusehen, um das dann wieder über das Handy zu dokumentieren.

Die Menschen, die das machen, erzählen dann anderen Menschen, wie man das macht.

Und diese Menschen, die sich davon erzählen lassen, kaufen dann die Sachen, von den Menschen, von denen sie sich davon erzählen lassen, um so zu werden wie sie.

Dies ist das Märchen, das Fitness heißt.

Aber das weiß keiner.

Manchmal ist es besser, etwas nicht zu wissen, wenn man es nicht besser weiß, weil man sich nicht anders zu helfen weiß, doch eine Geschichte dazu spinnen kann, die man sich dann selbst erzählen kann.


Foto by Gabor Kulcsar




“Fitte” Fitnessmenschen.



Wirklich “fitte” Menschen, im Sinne von “gesund” habe ich in der Fitnessblase selten kennengelernt.

Dafür viele Menschen die psychisch und physisch kaputt sind.


Die weinen, wenn sie ihr Spiegelbild sehen. 

Die von Ängsten getrieben sind.


Die extrem impulsiv sind.


Die außer Puste sind, wenn sie ein paar Minuten laufen müssen.


Die Spazieren als “Cardio” bezeichnen.


Die sich von früh bis spät mit Essen beschäftigen.


Die gern Pulver und Pillen essen.


Die aggressiv werden, wenn sie nicht trainieren können.


Die sich mit Essen zustopfen, wenn sie traurig und verletzt sind.


Die Müdigkeit, Erschöpfung, Hunger und Sättigung verzerrt wahrnehmen.


Die ein Leben leben, das sie nicht leben wollen.


Die mehr mit der Meinung anderer beschäftigt sind, als sich zu fragen, welche Meinung sie selbst vertreten.


Die ihren Hormonhaushalt selbstständig geschadet haben.


Die anderen Menschen schaden.

Die sich selbst schaden.

Die nicht wissen, was Liebe ist.


Die nicht wissen, was sie wollen.


Die mit ihren eigenen Emotionen überfordert sind.


Die sich selbst nicht fühlen können.


Die sich durch die Augen anderer sehen.

Alle haben eins gemeinsam:

Sie zeigen es nicht, obwohl sie stets bemüht sind, sehr viel von sich zu zeigen.

Foto by Matthew Waring



Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten

Sich zu zeigen, ist ebenfalls Teil der Kultur.

Oder besser gesagt, zeigt man, wie man von anderen gesehen werden will, nicht wie man wirklich ist.

Das, was hinter der schönen Fassade ist, ist das, was man in der Fitnessblase nicht sieht, obwohl es allgegenwärtig ist und in weiten Teilen ihre Existenzgrundlage ist.

Wo viel Licht ist, ist viel Schatten.

Das betrifft die Menschen, die Fitness konsumieren, sowie die Menschen, die diese Menschen zum Konsum animieren.

Eine toxische Dynamik also, von der beide Seiten voneinander kurzfristig profitieren.

Den Preis, vor dem sie sich heute drücken, zahlen sie eines Tages alle.

Doch die Ablenkung und die Geschichte, die sie sich selbst erzählen, ist zu gut, um ihr nicht zu glauben.

Menschen mit diesen Problemen erzählen Millionen anderer Menschen, mit denselben Problemen, etwas über Fitness, doch kaum jemand von ihnen war, ist oder wird wirklich “fit”.

Die Fragen und Probleme haben sich nie geändert.

Es sind dieselben, wie sie sie schon immer waren, seit “schlank & fit”, die Norm ist.

Nur die Antworten auf diese Fragen und Probleme und damit das, was als “richtig” und was “falsch” gilt, haben sich je nach Trend im Laufe der Zeit verändert.

Und das wird auch in Zukunft so bleiben.

Wissen hat stets eine Halbwertzeit.

Doch hier geht es nicht um Wissen.

Es geht um Nutzen:

Geld für kurzfristige scheinbare Problemlösungen im Austausch von Kompensation der langfristigen echten Probleme.

Die Anzahl der Menschen, deren Problem angeblich ihr Körper ist, wird zunehmen, genauso wie das Angebot, das diesen Menschen Problemlösungen verkauft, ohne, dass diese Probleme je gelöst werden.

Symptombekämpfung ist eben immer eine Goldgrube, da sie kurzfristig angenehmer als die langfristige Ursachenbehebung ist.

Menschen werden so lang darauf hereinfallen, bis der Schaden der Selbstzerstörung ausreichend fortgeschritten ist, sodass sie einsehen müssen, dass ein Pflaster auf der klaffenden Wunde des schmerzenden Selbstwerts eben nicht mehr ausreichend ist und man sich der Wundheilung nun annehmen muss, wenn man nicht weiter durch das eigene Leben humpeln will.


Foto by Joe Calata



Fitness in der Manteltasche


Nun sitze ich auf dieser Bank in einem Park, in dem es kein “Fitness” gibt.


“Fitness” steckt in diesem Moment in meiner Manteltasche:

In meinem Handy, in einer App, die ich in wenigen Sekunden löschen könnte.

Ich hole das Handy heraus, öffne Instagram und sehe viele “schöne”, “fitte” Menschen, die sehr bemüht sind “schön” und “fit” zu sein.

Körper, in die viel Zeit und Disziplin investiert wurde.

Menschen, die Kalorien gezählt haben.


Menschen, mit einer Haut ohne Poren und Falten.


Menschen, die ein paar Stunden in die Aufnahme und Bearbeitung des Fotos gesteckt haben.


Menschen, die sich die Mühe gemacht, über Kleidung und Pose nachgedacht haben.


Menschen, die sich sehr offensichtlich Gedanken darüber gemacht haben, wie sie sexuell attraktiv wirken können.


Menschen, die mit #nofilter oder #nomakeup beiläufig auf ihre natürliche Schönheit hinweisen, doch vergessen zu erwähnen, was sie sich alles haben spritzen, ankleben und reparieren lassen haben und wie alt sie eigentlich sind.

Menschen, die ihr Essen kreativ dekorieren und fotografieren.

Menschen, die viel Lebenszeit in die Bilder investieren, die die Welt von ihnen sehen soll, doch die gar nicht ihre Lebensrealität zeigen.

Alle haben eins gemeinsam:

Sie sind alle sehr bemüht, der digitalen Welt das Bild von sich zu zeigen, das die Welt von ihnen haben soll.

Dann sehe ich Posts, die erklären, 

…ob Frühstück essen zu mehr oder weniger essen führt.

…ob High oder Lowcarb besser ist.

…ob Süßstoff gut oder schlecht ist.

…ob bis zum Muskelversagen trainiert werden soll oder nicht.

…wie viel und wann man trainieren soll.

…wie viel Protein man essen soll.

…welche Proteinquelle man essen soll.

…was man bei PCOS nicht essen darf.

…was man bei PCOS essen darf.

…wie man Kinderschokolade fitnesstauglich und proteinreich faken kann, damit man Kinderschokolade essen kann, ohne sie zu essen, weil man die Kontrolle über sich verliert, wenn man sie isst.

…wie man Heißhunger bekämpft.

…wie man Essstörungen heilt.

…wie man einen großen Booty bekommt.

…wie man lernt, was Hunger ist.

…wie man lernt, was Sättigung ist.

…wie man lernt, sich selbst zu lieben.

Alle haben eins gemeinsam:

Es sind menschengemachte Problemlösungen für menschengemachte Probleme, durch menschengemachte Wertesysteme.


Foto by Toni Cuenca



Leben vor der Parkbank

Dann schließe ich Instagram und beobachte die Menschen, die an mir vorbei spazieren.

Sie lachen.

Sie reden.

Sie hören zu.

Sie halten Händchen.

Sie spielen mit ihren Kindern.

Ich sehe Falten.

Ich sehe große und kleine Nasen, Augen, Münder, Ohren.

Ich sehe schlanke und große Körper.

Ich sehe strahlende Gesichter und nachdenkliche Mienen.

Ich sehe wache Augen und Augenringe.

Ich sehe Läufer und Menschen, die humpeln.

Ich sehe flache und runde Bäuche.

Ich sehe große und flache Hintern.

Ich sehe alle möglichen Körperformen.

Ich sehe kurze, lange, krumme, dicke und dünne Beine.

Ich sehe lange, kurze, frisierte, zerzauste, helle, dunkle, graue Haare.

Ich sehe junge und gealterte Menschen.

Ich sehe Menschen, die energisch diskutieren und Menschen, die sich lieben.

Doch ich sehe keine perfekten Menschen.
Ich sehe nicht die Instagram Menschen.
Ich sehe keine Menschen, für die all das, was die Fitnessblase macht, wirklich existiert noch relevant ist.

Alle haben eins gemeinsam:


Jeder ist anders. 

Niemand ist perfekt. 
Doch jeder ist echt.

Zu Hause setze ich mich wieder an die Arbeit, die sich “Fitness” nennt.

Doch was ich tue, ist Menschen beizubringen, sich zu mögen.
Ich helfe ihnen gesund zu werden.
Ich helfe ihnen zu leben.

Weil sie das nicht tun, solang sie das Fitnessmärchen leben.

Ich öffne die Zugänge zur digitalen Welt, da wo dieses “Fitness” und meine Arbeit ist.

Und da sind sie wieder:

Die Menschen, mit den Problemen in ihrem Leben, das sie gar nicht leben, doch alles für den Fitnesslifestyle geben.

Foto by Teigan Rodger