Erinnerung an einen geliebten Menschen.
Heute ist der 1.März. Nach einem alten bulgarischen Brauch aus der Zeit vor dem 7. Jahrhundert n. Chr., der Geburtstag von Baba Marta.
An diesem Tag schenken sich die Bulgaren “Martinizi”. Kleine rot-weiße Talismane verschiedenster Formen aus Wollfäden, die für Gesundheit und ein langes Leben stehen.
Das Rot steht für rote Wangen.
Das Weiß für weiße Haare.
Man trägt die Martinizi bis man den ersten Storch, die erste Schwalbe oder die ersten Blüten an einem Baum als Symbol für den Beginn des Frühlings erblickt.
Meine verstorbene bulgarische Oma, die ich jedes Jahr nur ein paar Tage gesehen und stets so vermisst habe, hat mir jedes Jahr zum 1.März eine Karte mit Martinizi geschickt.
Jedes Jahr.
Seit ich denken kann.
Etwas von ihr.
Bis zuletzt.
Seit ihrem Tod bekomme ich keine Karte mit Martinizi mehr.
In einer digital, global vernetzten Zeit sollte ich dazu erwähnen, dass es viele Jahre nicht so einfach und selbstverständlich war, Geschenke zwischen Bulgarien und Deutschland zu verschicken, weil Packete oft geöffnet und wertvolle Inhalte geklaut wurden.
Doch Karten mit persönlichen Zeilen und einem Talisman aus Wollfäden einer Oma an ihre Enkelin, die für beide die Welt bedeuten, bedeutet dem Rest der Welt nichts, weil man es nicht zu Geld machen kann.
So blieb mir zumindest das, von dem Menschen, durch den ich gelernt habe, was Liebe wirklich ist und wie ich sie bei noch keinem Menschen in dieser Reinheit je wieder gesehen habe.
Weil heute der 1. März ist, wurde ich an ihre letzte Karte und die letzte Martiniza von ihr erinnert.
Die letzte Karte, mit zittriger Schrift und zwei Sätzen, die mir so viel bedeuten und so viel gegeben haben.
Auch heute wieder.
Auch morgen noch.
Das ist das Besondere bei der Liebe.
Liebe ist. Liebe bleibt.
Liebe entsteht nicht durch diese eine große Sache, die jemand mit Intention aus Liebe einmal tut.
Liebe wächst durch diese vielen kleinen Sachen, die jemand mit Intention aus Liebe immer wieder tut.
Liebe ist nicht, was kommt und geht.
Liebe ist, was aus Intention aus Liebe entsteht.
Liebe ist, was besteht, auch wenn der Mensch geht.
Hätte der technolgische Fortschritt und der Wandel der Kommunikationsformen früher eingesetzt, hätte ich heute keine Karte mit zittriger Schrift in der Liebe steht, in der Hand halten können.
Ich hätte Nachrichten und Bilder in digitaler Form.
Ich hätte keine Karte, mit dem letzten persönlichen Abdruck, durch den sie mir noch einmal erscheint.
Ich würde nicht den vertrauten Geruch wahrnehmen.
Ich würde die Bemühung und Liebe einer zittrigen, alten Hand, die Worte mit Bedeutung schreibt, nicht sehen.
Ich würde keinen Talisman, der mich auch ohne sie beschützen soll in der Hand halten.
Ich frage mich, wie sich die Erinnerungen an Menschen durch den Wandel der Zeit und den technologischen Fortschritt verändern werden?
Was bleibt Persönliches von einem Menschen, das man so intensiv fühlen kann?
Was hinterlassen wir Menschen jetzt?
An was wird man sich wie erinnern?
Wenn ein Mensch geht, bleibt die Erinnerung und die Bedeutung und der Sinn, die dieser Mensch den Dingen gegeben hat.
Der Körper geht.
Die Schönheit geht.
Der Besitz geht.
Die Sorgen gehen.
Die Ängste gehen.
Alles ist vergänglich.
Alles ist im Wandel.
Jeder wird gehen.
Was bleibt, ist was der Mensch gegeben und geprägt hat.
Was hinterlässt du?
Was bleibt von dir?
Welche Erinnerungen an dich überdauern dich?
Was hinterlassen die Menschen in deinem Leben?
Was bleibt von ihnen?
Welche Erinnerungen an sie überdauern sie?
Wer Liebe gegeben hat, hat etwas hinterlassen, das man nicht sieht & das nicht sterben kann, sondern die Zeit überdauert und ohne ihn*sie weiter leben kann.
Dieser Mensch lebt durch seine Liebe in anderen weiter & macht die Welt besser, in der er*sie nicht mehr ist.
Liebe ist die Kraft, die du durch einen Menschen auch in seiner Abwesenheit erfährst.
Liebe ist, was in dir durch den*die andere*n überlebt.
Liebe ist, was dich durch den*die anderen auch ohne ihn*sie stärker macht.
Liebe ist, was dich durch den*die andere*n, auch ohne ihn*sie beschützt.
Liebe ist kein Verlangen.
Liebe ist kein Begehren.
Liebe ist.
Liebe bleibt.
Liebe muss nichts.
Liebe braucht nichts.
Liebe ist nicht, was du begehrst.
Liebe ist, was du erfährst.
Begehren vergeht.
Liebe besteht.
Begehren nimmt.
Liebe gibt.
Begehren macht schwach.
Liebe macht stark.
Begehren schafft Unruhe.
Liebe schafft Ruhe.
Begehren entsteht aus Mangel.
Liebe entsteht aus Fülle.
Begehren hat Angst vor Verlust.
Liebe kennt weder Angst noch Verlust.
Begehren kommt, wenn der*die andere geht.
Liebe bleibt, wenn der*die andere geht.
Der Schmerz, den du spürst, wenn ein Mensch geht, mit dem dich Liebe verbunden hat, ist ein anderer Schmerz, als der Schmerz, den du spürst, wenn ein Mensch geht, mit dem dich das Begehren verbunden hat.
Liebe macht dich stark.
Begehren macht dich schwach.
Liebe ist kein Gegensatz zu etwas.
Liebe ist, was Gegensätze vereint.
Liebe ist ein Prinzip, das in vielen Formen erscheint.
Leben & Tod.
Anwesenheit & Abwesenheit.
Distanz & Nähe.
Schmerz & Heilung.
Krankheit & Gesundheit.
Krieg & Frieden.
Dich & die*den andere*n.
Deine Licht- & Schattenseiten.
Seine*ihre Licht- & Schattenseiten.
Liebe vereint, was sich ohne Liebe trennt.
Liebe ist, was bleibt, auch wenn der*die andere geht.
Liebe ist, was überlebt.